Veröffentlicht am: 11. Dezember 2017Von: Kategorien: Journalismus

Lügenpresse, Meinungsmache, Fake News. In diesen Vokabeln steckt der Vorwurf, dass Medien ihre eigene Agenda verfolgen und ihren Einfluss einsetzen, um die Bevölkerung in ihrem Sinne (oder dem einer imaginären höheren Macht) zu manipulieren. Die dahinterstehende Fragestellung ist nicht neu. Sie wurde bereits in den 70er Jahren in Deutschland untersucht – mit einem überraschenden Ergebnis.

Kennen Sie Elisabeth Noelle-Neumann? Nein? Kein Problem – außer Sie sind vielleicht Kommunikationswissenschaftler. Über die Fachwelt hinaus ist die 2010 verstorbene Grande Dame des Metiers vielleicht als Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach bekannt. In Fachkreisen ist sie vor allem für ihre international beachtete, aber besonders in ihrer deutschen Heimat kontrovers diskutierte Theorie der Schweigespirale berühmt – oder, je nach Sichtweise – berüchtigt.

Die Demoskopin Noelle-Neumann hatte nämlich in den Bundestagswahlkämpfen 1965 und 1972 folgende Beobachtung gemacht bzw. gemeint sie gemacht zu haben: Nach Umfragen ihres Instituts lieferten sich CDU und SPD seinerzeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Gleichzeitig nahm bei den Befragten die Erwartung zu, dass sich die Sozialdemokraten am Ende durchsetzen würden – was im Fall von 1972 dann ja auch tatsächlich der Fall war.

Noelle-Neumann sah die Berichterstattung in den Massenmedien als wesentlichen Faktor für diese Entwicklungen – und diese Massenmedien sind ihrer Ansicht nach politisch anders gefärbt als der Großteil der Bevölkerung. Und tatsächlich: Bei einer Studie zur Bundestagswahl 1976 erklärten 79 Prozent der befragten Journalisten, dass sie SPD oder FDP wählen wollten, während dies nur bei 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung der Fall war. Das Ergebnis ist bekannt, die damals regierende sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt gewann die Wahl.

Massenmedien prägen die Meinung

War der Einfluss der Medien also so groß, dass sie die Bevölkerung und in der Folge auch Wahlergebnisse beeinflussen konnten? Noelle-Neumann suchte die Begründung für diese Entwicklung in dem „Meinungsklima“, also „in der Vorstellung der Menschen, welche Ansichten und Verhaltensweisen gebilligt, beziehungsweise abgelehnt werden.“ Am Ende geht es ihr zufolge also darum, dass eine Minderheits- in den Medien als eine Mehrheitsmeinung dargestellt wird und so Einfluss ausübt auf jene, die nicht dieser vermeintlichen Mehrheitsmeinung anhängen.

Noelle-Neumann entwickelte ihre Theorie der Schweigespirale, um diese Entwicklung zu begründen. Deren wesentliche Annahmen sind:

  • Menschen fürchten als soziale Wesen die Isolation
  • Mittels eines „Quasi-Statistischen Wahrnehmungsorgans“ machen sich die Menschen ein Bild von der Verteilung und der Entwicklung der Meinungen in ihrem Umfeld
  • Je nach der wahrgenommenen Verteilung der Meinung sind Individuen bereit, ihre Meinung öffentlich zu vertreten. Ist ihre Sichtweise in der Mehrheit bzw. im Aufstieg begriffen, sind sie hierzu eher bereit.
  • Umgekehrt schweigen diejenigen, die sich in der Minderheit wähnen, aus Angst vor sozialer Isolation. Dadurch erscheint die vermeintliche Mehrheitsmeinung nur noch stärker.
  • Die Wahrnehmung über die vorherrschende Meinung wird maßgeblich von den Massenmedien geprägt
  • Voraussetzung für die Schweigespirale ist, dass das Thema moralisch bzw. emotional aufgeladen ist, so dass die Minderheitsmeinung nicht als rational, sondern eben als moralisch falsch erscheinen kann

Was denken die anderen?

Eine Funktion der Massenmedien in diesem Prozess besteht darin, dass (im Falle der klassischen Schweigespiral-Situation, in der eine tatsächliche Minderheit öffentlich als Mehrheit erscheint) die faktische Minderheitsmeinung durch Medien parallel und gehäuft als Mehrheitsmeinung dargestellt wird. Aus Angst, isoliert zu werden, unterlassen es in der Folge Anhänger der eigentlichen Mehrheitsmeinung, ihre Meinung öffentlich zu äußern.

Dieses Verhalten führt Noelle-Neumann auf die soziale Natur des Menschen zurück: Dieser möchte als Herdentier nicht isoliert werden, weswegen er einem Anpassungsdruck unterliegt. Deswegen prüft der Mensch in einem laufenden Prozess, welche Meinungen und Einstellungen öffentlich akzeptiert sind, ohne irgendeine Form von Sanktionen fürchten zu müssen.

Das führt in der Theorie dazu, dass ein tatsächlicher Meinungsumschwung stattfinden kann, wenn die Anhänger der Mehrheitsmeinung sich in der gegenteiligen Position wähnen. Sie vertreten ihre Position dann öffentlich eben nicht mehr, während Vertreter der Minderheit aus der Deckung kommen.

Noelle-Neumann nahm dies zum Anlass, um sich dem (vermeintlichen) Phänomen von wissenschaftlicher Seite her zu nähern. Im Rahmen einer Multimethodenstudie untersuchte Noelle-Neumann ihre These durch eine Panelbefragung, normale Repräsentativumfragen, zwei Umfragen unter Journalisten und eine Videoaufzeichnung von politischen Sendungen der zwei Fernsehprogramme (Sie erinnern sich, wir befinden uns in den 70er Jahren).

Das gewünschte Ergebnis bleibt aus

Als Ergebnis sah sie unter Journalisten eine hohe Zustimmung zugunsten von SPD/FDP – und im Laufe des Jahres auch einen Umschwung der öffentlichen Meinung, weg von CDU/CSU hin zu den späteren Wahlsiegern. Doch hätten die Wahlkampfparteien, so Noelle-Neumann, die Schweigespirale erfolgreich mit allen Mitteln der Öffentlichkeit bekämpft und dadurch ein Gleichgewicht im Meinungsklima hergestellt. Demnach konnte sie keine Schweigespirale nachweisen.

Als Konsequenz aus dem Wahlergebnis – CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf gab dem Fernsehen die Schuld an der Wahlniederlage – setzte sich in den folgenden Jahren vor allem die CDU/CSU für die Einführung des Privatfernsehens ein, um ein mediales Gegengewicht zu den vermeintlich linkslastigen öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten zu schaffen. Den vergleichsweise großen Einfluss, den Noelle-Neumann dem Fernsehen im Gegensatz zu anderen Medien zuschreibt, erklärt sie mit seiner besonderen Glaubwürdigkeit als Folge seiner vorgeblichen Suggestivität und Authentizität.

In Deutschland und im Ausland hingegen wurde Noelle-Neumanns Konzept der Schweigespirale kontrovers diskutiert. Einer der wesentlichen Kritikpunkte ist die mangelnde empirische Fundierung. So wurden beispielsweise nur 100 Journalisten – darunter rund zwei Dutzend aus dem Fernsehen – befragt und die Fernsehberichterstattung im Jahr 1976 nicht inhaltlich analysiert. Des Weiteren ist keine methodisch vollständig solide Untersuchung der „Schweigenden“ belegt.

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